schreibt Fantasy

Schlaflos in Berlin

»Auf Wiedersehen – und schlaft recht schön!«

Die Flötenmelodie der Schlussmusik verklingt und Sandmännchen schwebt mit flatternden Hubschrauberflügeln auf seiner Wolke aus dem Set.

»Uuund … Klappe! Das war’s, Leute.«

Einer nach dem anderen erlöschen die Studioscheinwerfer. Horst, der Kameramann, reibt sich den verspannten Nacken und schaltet sein Arbeitsgerät aus. Die Requisiteure, hastig wie immer, bauen bereits die beweglichen Teile des Sets ab. Heute haben sie in einer Hafenkulisse gedreht, morgen geht es auf die Alm, da kann man außer der vermaledeiten Wolke kaum etwas wiederverwenden.

Wann bauen sie ihm endlich wieder einmal einen fliegenden Porsche? Das Ding war knallorange, hatte richtig Wumms und flog schärfer als Sandmännchens Original. Das Studio war einfach zu klein für den Schwebeflitzer. Ist das wirklich schon dreißig Jahre her? Jetzt, kurz vor den Neunzigern, fliegt er immer noch auf einem Stück Watte und schielt neidisch auf den Ost-Kollegen und seinen enormen Fahrzeugpark.

Ächzend lässt sich Sandmännchen auf einen abgenutzten Schemel fallen. Die Nummer mit der Wolke ist viel anstrengender, als sie im Kinderfernsehen aussieht. Das wackelige Ding schwankt wie eine Luftmatratze auf hoher See und die einzige Stange, an der man sich festhalten könnte, dreht sich mit dem Rotor.

»Wer hat sich damals eigentlich dieses Alptraumgefährt ausgedacht?«

»Keine Ahnung.« Britta von der Maske zuckt mit den Schultern. »Der Herbert wahrscheinlich. Der hat am Anfang gemeinsam mit Rosemarie die ganzen Requisiten zusammengebaut. Dich übrigens auch.«

»Jedenfalls hat er von Arbeitssicherheit keine Ahnung«, erklärt Sandmännchen und schiebt Brittas Klebstofftube beiseite.

»Aber deine Augenbraue hängt runter!« Sie schlägt seine Hand weg. Ehe er sich wehren kann, hat sie schon eine Ladung stinkenden Kleber über dem Auge verteilt. Na prima. Jetzt liegt er sicher wieder den halben Tag wach und in der zweiten Hälfte träumt er von der BASF.

Britta schraubt die Tube zu, pustet sich feinen Sand von der Hand und mustert ihn kritisch. »Warum überhaupt Arbeitssicherheit? Du bist eine Puppe. Wenn du runterfällst, leime ich dich einfach wieder zusammen.« Sie reibt sich mit der sandigen Hand die Augen und muss auf einmal herzhaft gähnen.

»Und Puppen haben kein Recht auf Sicherheit?« Sandmännchen versucht auf sie herabzustarren. Leider ist Britta mehr als doppelt so groß wie er. So muss er nach oben schielen und fühlt sich wie ein Schulkind vor dem Rektor. Wenigstens kann er so unauffällig ihre Oberweite bewundern. Um die Aufregung zu verbergen, streicht er die Schifferkrause aus Schafswolle glatt, die sein Kinn umrankt. Weißhaarig mag er sein und klein, aber oho, wenn man es genau nimmt, ist er der einzige Stuntman im ganzen Studio. Eigentlich eine gute Partie.

Britta übersieht seinen kecken Blick und verlässt gähnend das Sendestudio. Sandmännchen knickt innerlich ein Stück zusammen. Nicht einmal Empörung kann er auslösen. Wer regt sich schon über eine Puppe auf oder gesteht ihr Gefühle zu?

Sollte er einmal mit dem Teufelsgefährt verunglücken, dann werden sie einfach eine kurze Sendepause verkünden und wenig später kommt das nächste große Ding. Mäuse und Maulwürfe lassen sie ja auch schon auf die Kinder los.

»Ich gehe noch einen trinken«, verkündet er dem Studio. »Kommt jemand mit?«

Keine Antwort. Der Raum liegt verlassen.

Schmollend lässt er die Tür zum Studio zufallen, ohne das Licht zu löschen, und verlässt das Sendegebäude.

***

»Ich geb wirklich jeden Abend mein Bestes«, erklärt er ein paar Stunden später dem Barkeeper einer verrauchten Kneipe am Bahnhof Zoo. »Mein Allerbestes. Absolut. Aber glaubst du, es hat sich schon mal jemand bedankt bei mir? Ich meine, außer den Kindern? Nö.« Seine Worte klingen bereits verwaschen. »Die anderen, ich meine … Ich komm vorbei und sie pennen schön. Da sagen sie auch nix mehr. Dankeschön.«

Mit einem Ruck schüttet er den Inhalt des Schnapsglases in sich hinein. Es liegt gut in der Hand, so wie für andere ein Bierglas. Sandmännchen trinkt kein Bier. Er braucht etwas Stärkeres, wenn er mit Adrenalin gefüllt vom Sender kommt. Etwas, das ihn daran hindert, abends noch die Glotze einzuschalten. Kommen abends eh nur Ratesendungen, Krimis und Heimatfilme. Völlig egal, welchen der drei Sender man wählt. Die Puppenkollegen arbeiten tagsüber in der Sesamstraße und bei den Wawuschels oder werfen sich ohne jede Selbstachtung dieser Maus an den Hals, die sich im Sonntagsprogramm breit macht. Bis Sandmännchen im Studio ankommt, haben sie längst Feierabend und während er zu seinem eigentlichen Job aufbricht, träumen sie im Fundus der Requisite von Kinderliedern und Pups-Witzen.

Er hätte von Anfang an die Finger von der Fernsehkarriere lassen sollen.

Andererseits, denkt er zwei Stunden später und schaufelt Schlafsand in Säcke, andererseits ist sein Erstberuf auch nicht gerade umwerfend: Herumfliegen und Quarzsand verstreuen. Wie Straßenfegen, nur umgekehrt. Wenn er nicht aufpasst, bekommt er noch eine Staublunge. Der Kollege hinter dem Eisernen Vorhang hustet schon längst, aber der fliegt auch jede Nacht durch Braunkohleschwaden.

Die drei Korn aus der Kneipe gröhlen in seinem Kopf den Refrain des Fernsehliedes. Sandmännchen holt die Wolke aus der Garage – die echte – und packt Sandsäcke auf die Ladefläche. Er startet den Motor, schiebt den Gashebel bis zum Anschlag nach vorn und lässt sein Gefährt knatternd emporsteigen. Mit einem hässlichen Knirschen schrammt die Wolke an der Peitschenlampe vorbei. Einer der Säcke reißt auf und ergießt seinen staubigen Inhalt auf den Gehsteig. Ein Pärchen, das fassungslos Sandmännchens Start zugesehen hat, reibt sich die Augen. Die beiden sinken in sich zusammen, strecken sich auf dem Asphalt aus und beginnen heftig zu schnarchen.

Verdammt! Das gibt wieder Ärger beim Zentrallager. Der Große Boss hat ihm unlängst die zweite Abmahnung angedroht. Sie lernen viel zu schnell von den Menschen, die da Ganz Oben.

Er nimmt Gas weg und hält auf die Hochhäuser hinter dem Stadtring zu. Mit dem restlichen Sand muss er jetzt sparsam umgehen. Morgen werden sich die Berliner beklagen, dass sie wieder mal kein Auge zugetan haben.

***

Am späten Vormittag sitzt Sandmännchen müde und misstrauisch im Wartebereich der Personalabteilung. Noch nie haben sie ihn beim Sender einbestellt. Und nun, als er sich beschweren will, bekommt er einen großen Empfang? Da muss etwas faul sein.

Die Sekretärin bittet ihn herein. Er folgt ihr durch das Vorzimmer und staunt über die riesige Kiste auf ihrem Schreibtisch. Ein echter Computer? Die werden ja richtig modern hier.

Der Personaler thront hinter einem ausladenden Schreibtisch in Eiche dunkel, passend zu den durchfallfarbenen Vorhängen.

»Du willst also mehr Geld«, stellt er fest und richtet seinen Kugelschreiber an der Tischkante aus.

»Irrtum, Hochwürden.« Sandmännchen weiß genau, dass Leute, die mehr Geld wollen, ganz schnell die Tür von außen sehen. »Ich beantrage lediglich eine sicherheitstechnische Überholung der Sandmännchen-Wolke in Studio acht. Wenn dieser Schrotthaufen der Unfallversicherung in die Hände fällt …«

»… fragen die mich als erstes, welcher Mitarbeiter damit fliegt«, unterbricht ihn der Personaler. »Und wenn ich dann antworte: Eine Sandmännchen-Puppe, was glaubst du, was dann los ist, he?«

Puppe. Bah. Alle reiten sie darauf herum, dass er aus Holz und Wollfäden gemacht ist. Besser weiße Wolle auf der Kugel als so eine rote Triefnase wie der Personaler.

»Ich möchte darauf hinweisen, dass mein Kollege hinter dem Eisernen Vorhang nicht nur sichere, sondern auch ständig neue Fortbewegungsmittel gestellt bekommt. Bei den Kindern drüben ist das der Knaller. Aber wenn der westdeutsche Rundfunk sich vom DDR-Fernsehen ausstechen lassen will, bitte …«

Der Personaler unterbricht ihn grob: »Ich glaube, dir ist da etwas entgangen, Püppchen. Hast du mal deine Einschaltquoten angesehen?«

»Ihr zeigt mir ja nicht mal einen Kontoauszug«, mault Sandmännchen.

»Ich sage mal so: Es gibt vielleicht noch ein oder zwei Kinder, die dir beim Turnen zugucken. Die anderen gucken japanische Zeichentrickfilme oder diese amerikanischen Vorabendserien.« Er beugt sich vor. »Deine altbackene Show will niemand mehr sehen. Du bist aus der Zeit gefallen, Püppchen.«

»Ich …«

Sandmännchen fehlen die Worte. Das Gespräch läuft völlig anders als geplant.

Der Personaler lehnt sich zurück. »Da du nun schon mal hier bist, kann ich es dir auch gleich sagen. Der Rundfunkrat hat entschieden, dass deine Sendung Ende März ausläuft. Bis dahin wird die olle Wolke ja noch durchhalten. Den fliegenden Porsche hast du damals ohnehin ganz schnell geschrottet.«

»Aber … Das könnt ihr nicht machen!«

In gespieltem Bedauern breitet der Personaler die Arme aus. »Du kannst dich ja beim Rundfunkrat beschweren. Die paar Kinder, die sich noch für dich interessieren, sollen eben Ostfernsehen gucken. Ist ja ohnehin viel moderner als wir.« Er wiehert vor Lachen über seinen Witz und taxiert anschließend Sandmännchen mit berechnender Miene.

»Zum ersten April bist du nicht mehr Mitarbeiter der Sendeanstalt. Die Kündigung wegen Wegfall der Stelle wird dir schriftlich zugestellt. Der Betriebsrat hat das Ganze schon abgenickt. Für Puppen gibt es übrigens keine Abfindung. Du hast ja nicht mal einen Tarifvertrag!« Wieder beugt er sich nach vorn: »Du bist Geschichte, Sandmann.« Er drückt auf einen Knopf und die Sekretärin erscheint, als hätte sie hinter der Tür gewartet.

Fassungslos lässt Sandmännchen sich nach draußen führen. Eine Spur feinen Quarzstaubs bleibt hinter ihm zurück.

Er stolpert durch die Drehtür am Ausgang. Beinahe wäre er gegen das Glas gerannt, so blind ist er vor lauter sandigen Tränen. Ziellos lässt er sich durch die Straßen treiben. Eigentlich müsste er längst im Bett liegen, damit er den Stunt heute Abend frisch und ausgeruht angehen kann, aber seine Beine fühlen sich an, als hätte jemand sie mit Beton gefüllt. Die Wolke wird ihn in dieser Verfassung niemals tragen können und er hat nicht vor, sich auf die letzten Tage im Sender noch das Genick zu brechen.

Bis zum Abend hat er sich soweit gefangen, dass er den Dienst antreten kann. Lustlos besteigt er seine Wolke und rumpelt ins Set. Am liebsten würde er den kleinen Seehund einfach mit dem Rotor in Scheiben schnippeln, aber der kann ja auch nichts dafür. Ende März landet er ohnehin in der Requisite.

Sandmännchen zielt und lässt die Wolke gegen eine Schiebekulisse krachen, die polternd umfällt und beinahe einen Beleuchter unter sich begräbt. Wortreich entschuldigt er sich für das Missgeschick, nur um wenig später Britta von der Maske anzumaulen, die ihm den Bart kämmen will. Eine unheimliche Lust an der Zerstörung hat ihn gepackt. Gibt es nicht in den USA diesen neuen Film mit einer Mörderpuppe als Hauptdarsteller? Das wäre eine Rolle für ihn! In Amerika kann man wütende Puppen offenbar gebrauchen.

Auswandern wird er, jawohl! Hoffentlich hält die alte Wolke auch einen Langstreckenflug durch. Zuerst allerdings wird er nach der entwürdigenden Kündigung für einen wirklich denkwürdigen Abschied sorgen.

***

In den folgenden Wochen klagt halb Berlin über Schlafmangel. Die Zeitungen berichten täglich über das unheimliche Phänomen. Mit tiefen Schatten unter den Augen schleppen sich die Menschen zur Arbeit und mancher verpasst in der U-Bahn seine Haltestelle, weil er wie hypnotisiert auf die Werbeanzeigen starrt. Der Schlaf flieht sie wie nie zuvor.

Berlin, the city that never sleeps. Ha!

In Sandmännchens Garage stapeln sich Sandsäcke. Anweisungen von Ganz Oben ignoriert er und zu einem Anhörungstermin zum Berliner Schlafstörungsphänomen erscheint er gar nicht. Heimlich bringt er die Säcke in ein neues Lager und als die von Ganz Oben eine Untersuchungskommission zur Garage schicken, findet die nur die Tagesmenge für den kommenden Abend und ein paar einsame Körnchen auf dem Betonboden.

Sie werden ihn rausschmeißen, ganz sicher werden sie das. Bis dahin bunkert er Sand.

***

Der Oberste Personaler stiert mit blutunterlaufenen Augen auf seinen Besucher.

Sandmännchen sieht prächtig aus, als käme er aus dem Resturlaub. Die letzte Sendung hat er mit Charme und Esprit absolviert und sich mit einer vorbereiteten kleinen Rede vom Drehteam und Britta verabschiedet. Während er sprach, brach der Kameramann zusammen und stierte reglos an die Decke. Zwei übermüdete Sanitäter transportierten ihn in die Klinik, wo man die dreifache Menge Narkosemittel brauchte, um ihn endlich schlafen zu legen.

Tja.

Sandmännchen zieht das Gesicht in Sorgenfalten. »Ganz Unter uns: Sie sehen fürchterlich aus.«

»Was?« Der Personaler schreckt hoch.

»Fürchterlich«, feixt Sandmännchen. Sein Gegenüber hört kaum zu und schielt auf die Tür des Büros. »Heute Nacht hab ich geträumt«, murmelt er. »Dein Kollege – also das echte Sandmännchen – kam vorbei. Ich hab gebettelt wie ein Landstreicher bei der Bahnhofsmission. Sogar meine Rolex habe ich verpfändet. Heute morgen war sie tatsächlich weg. Trotzdem hat er mir keinen Sand gegeben.«

»Na, na.« Sandmännchen zieht eine Braue hoch. »Sie glauben doch wohl nicht an so altmodische Dinge wie Schlafsand? Nehmen Sie einfach zwei Valium. Das ist modern und effektiv, genau wie Ihr Sender.« Er kichert hämisch.

»Hab ich schon«, nuschelt der Personaler mit schlaffen Wangen. »Hilft nichts. Kann nicht schlafen.«

»Ganz unter uns: Ihr altbackenes Gejammer will niemand mehr hören. Ihnen wird schon etwas einfallen. Etwas Modernes!« Dieses Mal beugt sich Sandmännchen nach vorn. »Oder …«

»Oder?« Der Personaler starrt ihn aus blutunterlaufenen Augen an.

»Oder wir sprechen noch einmal über die Abfindung.«

***

Hinter Sandmännchen klingt mächtiges Schnarchen aus dem Büro des Personalers. Auf dem Weg nach draußen lässt er die Rolex um den Finger kreisen. Den Scheck wird er noch heute einlösen und in der kommenden Nacht nach Amerika aufbrechen. Zuvor wird er den gebunkerten Sand über der Stadt abwerfen. The City that never sleeps? Dornröschen wird der Sache ein ganzes Stück näher kommen.

Sandmännchen stößt die Drehtür an und übt sich in einem maliziösen Lächeln.

Chucky wird stolz auf ihn sein.